Unser Mammutbaum

Von Tobias Perlick

Zehn Männer waren dabei, einen der größten Bäume der Welt zu fällen. Drei Wochen lang hatten sie mit ihren Äxten gehackt und gehauen, vom Morgen bis zum Abend. Heute war es soweit, gleich würde der Riese endlich fallen. – Das war vor etwa 160 Jahren, in einem Schneegebirge ganz im Westen der USA.

Dieser Baum war fast 100 Meter hoch, etwa dreitausend Jahre alt, weit über tausend Tonnen schwer und hatte ganz unten einen Durchmesser von 10 Metern. Bitte messt einmal bei euch zu Hause in eurer Wohnung zehn Meter ab, und stellt euch dann einen Baum vor, der so dick ist!

Und schaut euch bitte bei nächster Gelegenheit den Fernsehturm an. Nehmt die Strecke von ganz unten bis dort, wo die Kugel beginnt. Davon die Hälfte, so hoch war der Riesenbaum!

Viele gab es davon, sehr viele. In einsamen Bergtälern hatten sie durch lange Zeiten überlebt. Vor unseren Eiszeiten wuchsen sie auch bei uns in Europa, und in anderen Teilen der Welt. – Im Jahre 1852 waren sie in Amerika von den weißen Siedlern entdeckt worden, und nur wenige Jahre später waren ganze Wälder davon schon abgeholzt. „Holz, Holz, wir brauchen viel, viel Holz!“, hieß es. Es war ein Kampf, Mann gegen Baum. Und je größer der Baum, desto größer der Sieg. So kam es, dass die allergrößten und prächtigsten dieser Baumriesen nun schon längst von der Erde verschwunden sind. Einzelne alte Fotos und Zeichnungen findet man noch davon.

Einen Mann gab es, John Muir, der dachte und fühlte anders. Er sagte immer wieder: „Wir müssen diese Bäume schützen, nicht schlagen! Unsere Kinder, unsere Enkel, ja viele Menschen auch aus anderen Ländern sollen diese Bäume noch sehen und bewundern können!“ Nach Jahrzehnten hatte John Muir endlich Erfolg, und langsam wurden die ersten Schutzgebiete geschaffen.

Wie sollte man solch große Bäume nennen? Einfach Riesenbaum? Oder Wal-Baum vielleicht, nach dem größten Tier, dem Wal? Aber der schwimmt ja im Wasser, das passte nicht zu einem Baum, der doch auf dem Lande wächst. Dann also Elefantenbaum? Oder, hatte es da nicht noch größere Tiere als den Elefanten gegeben, früher? Ja, das waren die pelzigen, zotteligen Mammuts mit ihren langen, gebogenen Zähnen. Und so heißt diese Baumart nun tatsächlich: Mammutbaum.

Diese so großen und schweren Bäume beginnen ihr Leben aus kleinen und ganz leichten Samen. 250 Stück davon wiegen erst ein Gramm. Das hatte auch einen deutschen Fürsten zum Staunen gebracht. Er wollte in seinem Schlosspark einige Mammutbäume anpflanzen und bestellte „ein Pfund Samen“ davon aus Amerika. Da mussten die Sammler viele, viele Mammutbaumzapfen finden und ausklopfen, bis ein ganzes Pfund zusammen war, das waren dann nämlich schon mehr als hunderttausend Samen.

Inzwischen gibt es an vielen Orten in Deutschland, und auch in Berlin, Mammutbäume. Einer davon wächst bei uns auf dem Schulhof. Ja, unsere „Klettertanne“ ist ein Mammutbaum. Er kann älter werden, als unsere ganze Stadt Berlin jetzt alt ist. Er hat bei uns eine selten schöne Lage: mitten auf einem weiten Schulhof, ringsum Platz und Licht, von allen Seiten gut zu sehen. Durch diese Lage ist er auch für ganz Berlin eine Besonderheit. Stellt euch einmal vor, wie groß und wie dick dieser Baum wohl in 100 Jahren, oder in 500 Jahren werden könnte.

Die nächsten Mammutbäume stehen übrigens im Humboldthain. Vier Stück als Gruppe dicht beim Rosengarten, und drei beim Eingang des Schwimmbads.

Nehmt euch doch einmal etwas Zeit, den Mammutbaum genauer anzuschauen. Drückt mal mit dem Finger vorsichtig in die Rinde, wie weich sie ist. Bei den ganz alten Bäumen in Amerika ist die Rinde einen halben Meter dick, damit konnten sie jeden Waldbrand überleben, der dort alle paar hundert Jahre einmal ausbrach, wenn ein Blitz einen der Bäume in Brand gesetzt hatte.

Und schaut euch einmal eine einzelne Nadel an. Vielleicht auch zu Hause unter der Lupe. Kein anderer Nadelbaum hat genau solche Nadeln. „An seinen Nadeln könnt ihr ihn erkennen!“ Die Nadeln bleiben 3-4 Jahre am Baum, dann welken sie und fallen ab, gleich büschelweise mitsamt den vertrockneten altenTrieben.

Bald, im März und im April, wird der Mammutbaum blühen. An den Spitzen der feinen Triebe könnt ihr vielleicht die etwa fünf Millimeter großen, gelblichen männlichen Blüten entdecken, die dann ihren Blütenstaub verstreuen. Die weiblichen Blüten sind anfangs grün, zapfenförmig und noch kleiner als die männlichen.

Für die Wissensfreunde unter euch gibt es hier noch etwas Futter: Der Mammutbaum  heißt auch Berg- oder Riesenmammutbaum. Sein wissenschaftlicher Name ist Sequoiadéndron gigánteum. Er ehrt den Indianer Se-quo-Yah (1770-1843), Sohn einer Indianerin und eines Deutschen, der das erste Alphabet für eine indianische Sprache entwickelt hat (für die Cherokee-Sprache seines Volkes). Und es gibt noch den Küstenmammutbaum (Sequoia sempervirens), der hat seine Heimat weiter westlich in den Küstennebel-Gebieten Nordkaliforniens. Dort ist das Wetter milder, hier bei uns ist er nur selten zu sehen, ihm gefallen unsere kalten Winter nicht.

Für die Kletterfreunde unter euch gibt es hier noch eine große Bitte: Schont unseren Baum, zerkratzt ihm nicht die dünne Rinde seiner Äste mit euren Schuhen, und achtet darauf, dass ihr ihm keinen einzigen seiner Äste brecht! „Gebrochen ist gebrochen, das wächst nie wieder nach!“ – Lasst uns diesen Baum schützen, so wie John Muir ganze Wälder geschützt hat. Damit sich noch viele tausend Kinder an ihm freuen können in den nächsten Jahrzehnten – und Jahrhunderten!

Jeder Baum kann uns etwas zeigen. Wenn wir uns die Zeit und die Ruhe nehmen, uns auf ihn einzulassen, ihn anzuschauen, oder sogar ihm zuzuhören. Auf der Insel Rügen steht ein etwa 140 Jahre alter Mammutbaum. Bei ihm habe ich einmal das folgende Gedicht aufgeschrieben, in dem der Mammutbaum uns Menschen zeigt, was wir an ihm lernen können.

 

Der Mammutbaum

rage deine Kraft,

fasse deinen Grund,

finde deine Größe.

Weite deinen Sinn,

achte deinen Stand,

zeige deinen Geist.

Bleibe jederzeit

in Verbundenheit

mit dem großen Kreis.